Die zweite Kunduz-Affäre

Afghanistan: Am Freitag vermeldet das deutsche Militär drei in einem Gefecht mit „Taliban“ gefallene deutsche Soldaten. Gestern heisst es dann, fünf oder sechs afghanische „Soldaten“ in einem zivilen Fahrzeug seien von einem deutschen Schützenpanzer getötet worden – alles in unmittelbarer Umgebung des deutschen Militärstützpunktes in Kunduz, in dessen Sichtweite gerade ein viermal so großer Komplex der US-Streitkräfte errichtet wird. Afghanistan-Kommandeur General Stanley McChrystal traf gestern in Kunduz ein. Die Nato kündigt eine Untersuchung der Vorfälle an.

Heute morgen flog der deutsche Entwicklungshilfe-Minister Dirk Niebel (FDP) nach Kunduz. Er nahm an einer Trauerfeier für drei deutsche Soldaten teil, die nach Angaben des Militärs, sowie eingebetteter Presse, am Freitag dem 2.April bei einem ominösen Gefecht mit „Taliban“ unter bislang nicht von unabhängiger Seite bestätigten Umständen um´s Leben kamen. Es gab zahlreiche Widersprüche in den Darstellungen.  (Wer redet von drei toten deutschen Soldaten in Afghanistan?). Hatte es Freitag noch geheissen, Niebel sitze im afghanischen Hauptquartier der deutschen Besatzungstruppen in Mazar-i-Sharif fest, „weil alle verfügbaren Hubschrauber für den Transport von Verwundeten eingesetzt“ würden (1), hiess es heute, Niebel müsse die Särge der drei Gefallenen aus Kunduz holen und mit seinem Regierungs-Airbus nach Hause bringen, da sie sonst „erst in ein paar Tagen ausgeflogen werden könnten“. (2)

Die Trauerfeier verlief entsprechend der Umstände. Die gehaltenen Reden entsprachen den Erwartungen.

KUNDUZ: WO SICH FREUND UND FEIND GUTE NACHT SAGEN

Gestern hatte der ominöse „Gouverneur“ von Kunduz, Mohammad Omar, gemeldet, es seien „ausserhalb der Stadt Kunduz“ in der späten Freitag Nacht sechs „afghanische Soldaten“ durch Einheiten der Bundeswehr getötet worden (3). Das Einsatzführungskommando in Potsdam meldete daraufhin, ja, wir haben in Afghanistan Afghanen getötet und es seien „Soldaten“ gewesen – aber fünf an der Zahl, nach einer Abfahrt der deutschen Einheiten um 19.21 Uhr Ortszeit aus dem (in der Nähe gelegenen) deutschen Militärstützpunkt und die „afghanischen Soldaten“ hätten sich in zwei Zivilfahrzeugen befunden. Diese zwei Zivilfahrzeuge seien aber „Fahrzeuge der Afghan National Army“ gewesen.

Diese zivil-militärischen Ansatz-Einsatz-Automobile der afghanischen Einheiten seien auf die deutschen Militäreinheiten zugefahren, welche sich „auf dem Weg zum Einsatzort im Norden des Landes“ befunden hätten. Trotz „durchgeführter Sicherheits- und Identifizierungsverfahren“ hätten die afghanischen Fahrzeuge nicht angehalten. Daraufhin habe ein Schützenpanzer der Bundeswehr das Feuer auf die zivilen Fahrzeuge des afghanischen „Militärs“ eröffnet und fünf afghanische „Soldaten“ getötet. (4,5)

Nun, der angeblich umkämpfte „Taliban“-Distrikt Char Darah befindet sich nicht nur in unmittelbarer Nähe des deutschen regionalen Militärhauptquartiers in Kunduz, sondern liegt südwestlich von diesem. Die Formulierung „im Norden des Landes“ ist eine Irreführung.

Von einer kleinen Ungenauigkeit hinsichtlich der Darstellung des deutschen Militärs über die Umstände des Todes der afghanischen „Soldaten“ bei den ominösen Vorkommnissen am Freitag ist auch bei der heutigen Trauerfeier zu sprechen. Der neue lokale Isaf-Kommandeur in Kunduz, Reinhardt Zudrop, sprach jedenfalls den Angehörigen von fünf getöteten afghanischen „Soldaten“ sein Beileid aus.

„Ich entschuldige mich, dass diese Kameraden durch unsere Hand gefallen sind“ (2)

Vielleicht war sein Vorgesetzter, der seit dem 30.November 2009 amtierende Chef der deutschen Isaf-Besatzungstruppen in Nord-Afghanistan, der Kommandeur des „Regionalkommando Nord“ Frank Leidenberger, einfach besser informiert worden.

Erstmals räumte er ein, das sechs Afghanen getötet wurden. Bisher hatte die Bundeswehr von fünf Toten gesprochen. (6)

Man kann eigentlich vom deutschen Militär wenigstens erwarten, dass ihre leitenden Offiziere in der zentralasiatischen Besatzungszone sich zwei Tage später darüber im Klaren sind, wie viele verbündete Soldaten ihre Bundeswehr nun versehentlich umgebracht hat, während sie in unmittelbarer Nähe des eigenen Stützpunktes gleich von 200 „Taliban“ angegriffen wurde.

Es sei denn, es ist etwas ganz anderes passiert, als das Militär behauptet. Das soll auch in der deutschen Geschichte schon einmal vorgekommen sein. Wenn man das Wort „Kunduz-Affäre“ nun vorsichtig, langsam und deutlich sich selber vorspricht, könnte man sogar zu der Auffassung gelangen, dies geschehe ständig.

DIE TALIBAN VON KUNDUZ

Aus dem „Bild“-Bericht (1), der, angeblich am Freitag um 18.01 Uhr veröffentlicht, nach vielen Kapriolen der Darstellungen um 19.10 Uhr in Google News auftauchte:

„Gemeinsam mit Soldaten der afghanischen Armee gerieten die Deutschen gegen 13.50 Uhr Ortszeit in einen offenbar von langer Hand geplanten Hinterhalt der Terroristen. An einer unübersichtlichen Stelle der Straße wurden sie aus allen Himmelsrichtungen von insgesamt vier Taliban-Trupps mit insgesamt etwa 200 Kämpfern beschossen.“

Offensichtlich befanden sich zwar nicht die Pressedrohnen, aber dafür die Drohnen der Nato im Osterurlaub. So eine Farce.

Das US-Militär errichtet direkt neben dem Militärflughafen von Kunduz einen Militärstützpunkt, der laut Angaben deutscher Militärs gegenüber der eingebetteten Presse vier mal so groß ist wie das deutsche Lager. Bis „Sommer 2010“ soll es 2500 US-Soldaten und 4000 afghanische Soldaten umfassen (7). Dass sich hier das deutsche Militär nun weit über drei Jahre nach Übernahme der Besatzungszone in Nord-Afghanistan hinstellt und von „Taliban“-Gebieten gleich neben dem eigenen und dem US-Stützpunkt redet, ist eine plumpe Dreistigkeit.

DIE „DIVISION SPEZIELLE OPERATIONEN“ (DSO)

Die Kommandeure des „Regionalkommando Nord“, der am 1.Juni 2006 durch die deutsche Regierung aus CDU, SPD und CSU eingerichteten deutschen Besatzungszone, entstammen samt und sonders dem Sumpf der militärischen Sondereinheiten, die unter der SPD-Grüne-Regierung Gerhard Schröders (1998-2005) im Zuge der ersten Kriege mit deutschen Soldaten seit dem zweiten Weltkrieg eingerichtet und massiv ausgeweitet wurden. Am 1.April wurde die „Division Spezielle Operationen“ geschaffen. Zu ihr zählt auch das „Kommando Spezialkräfte“ (KSK), deren Soldaten als Teil der geheimen Regierungseinheit „Task Force 47“ im Zuge einer geheimen Operation das Kunduz-Bombardement am 4.September 2009 betrieben.

Zu diesem Zeitpunkt kommandierte das „Regionalkommando Nord“ Brigadegeneral Jörg Vollmer. Nach den deutschen Parlamentswahlen, noch während den Koalitionsverhandlungen und vor dem teilweisen Regierungswechsel in Berlin, ging am 3.Oktober das Oberkommando auf Brigadegeneral Jürgen Setzer über. Diesen wiederum holten am 29.November, so heisst es, plötzlich auftretende unerwartete Probleme ein. Er musste am 29.November “aus gesundheitlichen Gründen in die Heimat zurückkehren”, so der reichlich zivile Eintrag bei Wikipedia.

Brig.Gen. Setzer diente von 2001-2004 im Bundesverteidigungsministerum, erst als Referent im Planungsstab unter Generalleutnant Wolfgang Schneiderhan (ab Juni 2002 Generalinspekteur und damit oberster deutscher Militär)  und danach unter Ministerialdirektor Franz H. U. Borkenhagen. Ab 2004 war Setzer Operationsgeneralstabsoffiziers (G3) der Division Spezielle Operationen unter dem Kommando von Generalmajor Rainer Glatz in Regensburg. Zur DSO gehört bekanntlich auch das Kommando Spezialkräfte (KSK). Von 2006-2007 war Setzer Stabschef der DSO und im Einsatz in Afghanistan. Wie Oberst Klein war der heutige Brig.Gen. Jörg Setzer vom Juli 2007 bis zum Januar 2008 lokaler Isaf-Kommandeur in Kunduz. Zum Zeitpunkt des Luftangriffs in Kunduz am 4.September befehligte er die Luftbewegliche Brigade 1, die ebenfalls der DSO untersteht.

Setzers Nachfolger als Oberkommandeur der deutschen Besatzungszone wurde am 29.November Brigadegeneral Frank Leidenberger, ebenfalls Elitesoldat. Leidenberger hatte vor Setzer als DSO-Stabschef in Regensburg gedient, von 2004-2006. Nun wurde er nach Setzer Chef des Regionalkommandos Nord. Zum Zeitpunkt des Luftangriffs in Kunduz am 4.September war Brig.Gen. Leidenberger Kommandeur der Luftlandebrigade 31, ebenfalls Teil der DSO.

Von Glatz (damals wie heute Leiter des Einsatzführungskommandos in Potsdam) und Vollmer (damals Chef des Regionalkommandos Nord) wurden mittlerweile bekannt, dass sie noch am 4.September versuchten, im Nato-Kommunikationsnetzwerk aufgetauchte Meldungen über zivile Opfer unauffällig verschwinden zu lassen. Am 5.März hatten die Witzfiguren des zum „Untersuchungsausschuss“ umgewandelten Berliner Verteidigungsausschusses davon aus der Presse erfahren. Prompt wurde die Vernehmung von Glatz und Vollmer um zehn Tage verschoben, so aufrichtig empört war man. (Kunduz-Anhörung im Aussschuss um zehn Tage ausgesetzt, 5.März 2010)

MCCHRYSTAL IN KUNDUZ

Am gestrigen Samstag, einen Tag nach den ominösen Gefechten in unmittelbarer Umgebung des deutschen Isaf-Stützpunktes von Kunduz (Kundus), gab es dort unangemeldeten Besuch: den Kommandeur der Isaf/Nato-Truppen in Afghanistan, General Stanley McChrystal.  Wie nach dem vom damaligen lokalen Isaf-Kommandeur Oberst Georg Klein befohlenen Bombardement am 4.September 2009 mit über 130 Toten, hatte es sich McChrystal nicht nehmen lassen, bei seinen Untergebenen einmal vorbei zu schauen. Er würdigte ausdrücklich die gefallenen deutschen Soldaten, er bedauerte die gefallenen afghanischen Soldaten. Er gab bekannt, dass er als Nato-Kommandeur Afghanistans eine Untersuchung der Vorfälle eingeleitet habe.

Den eingebetteten Kollegen von SpOn (8) schwante Übles. Erstmal gut Wetter machen.

„Gleichwohl wird es wohl keine öffentliche Schlammschlacht geben, alle Beteiligten haben aus der Erfahrung des 4. September gelernt. Gleichwohl wird der US-General die Nato-Ermittlungen rasch vorantreiben.“

Hmm. Da gibt es ja noch das Land, was an der Spree dementiert wird, mit seinen verdammten Gesetzbüchern.

„Neben den Nato-Recherchen wird sich auch wieder die Frage stellen, ob ein deutscher Staatsanwalt den Tod der Afghanen untersucht. Für das gerade erst eingerückte Bundeswehr-Kontingent in Kunduz sind das sehr schlechte Vorzeichen.“

DEUTSCHLAND BRAUCHT KEINE BESATZUNGSZONE IN NORD-AFGHANISTAN

Noch nie in der kargen demokratischen Geschichte der Deutschen hat das Militär jemals von irgendwem aus der Politik ernsthaft Druck bekommen, bei nichts und wegen nichts. Mag es auch skurril sein, in diesen merkwürdigen Zeiten: man freut sich denn doch, wenn das wenigstens ein General der Vereinigten Staaten von Amerika schafft.

In Deutschland fragt man sich nur noch, wann die Soldaten nach Hause kommen. Eine Besatzungszone des deutschen Militärs in Afghanistan braucht hier niemand. Sollten die US-Militärs diese übernehmen, wäre wenigstens klar, wer in Afghanistan für welche Militärbewegungen verantwortlich ist und wer sie befohlen hat.

Die erste Kunduz-Affäre gäbe es ohne Informationen aus US-Quellen nicht. Afghanistan-Kommandeur McChrystal hatte sich sofort nach dem Bombardement am 4.September 2009 um eine Aufklärung der Ereignisse bemüht. Die Motive dafür sind zweitrangig; der immer noch instabilen und jungen Berliner Republik taten die Amerikaner damit jedenfalls objektiv einen Gefallen.

Die deutsche Demokratie ist zu schwach, um das eigene Militär zu kontrollieren. Soviel sollte endgültig klar sein. Aber es könnte ja sein, dass sich das mal ändert. Und dann geht es ab nach Hause.

(…)

27.01.2010 Sehr geehrtes (Wahl-)Volk! Lassen Sie Ihre Soldaten nicht in Afghanistan!
Ein Brief an die Deutschen, vor der Konferenz der Besatzungsmächte in London.

26.01.2010 Eskalation in Afghanistan: Jetzt saust das Fallbeil über CDU, FDP und CSU
Merkel und Westerwelle: “Für ein paar 850 deutsche Soldaten mehr”. Die Afghanistan-Konferenz in London am Donnerstag hat bereits jetzt ihr aus Übersee erwartetes Ergebnis: ein weiteres Absaufen der Berliner Republik im Asienkrieg. Doch eins ist sicher: die Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen wird für diese Regierung ein Massaker.

04.11.2009 Afghanische Warlords stehen jährlich mit Hunderten von Millionen-Dollar-Margen auf NATO-Gehaltslisten
Mit diesem Geld inszenieren diese unter anderem Anschläge, damit ihre privaten Milizen gemietet werden um die Sicherheit der ISAF zu gewährleisten, meldete The Asia Times unter Berufung auf einen Bericht des Zentrums für Internationale Zusammenarbeit an der New York University (NYU), der im September veröffentlicht wurde.

31.10.2009 Afghanistan: Isaf sah Mord an UNO-Mitarbeitern stundenlang tatenlos zu
Das Attentat in Kabul erfolgte durch “Bewaffnete in Polizeiuniformen”. Die NATO-Besatzungstruppen taten nichts. Sagen sie.

Quellen:
(1) http://www.bild.de/BILD/politik/2010/04/02/afghanistan-einsatz-deutsche-bundeswehr-soldaten/bei-gefechten-nahe-kunduz-getoetet.html
(2) http://www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,687212,00.html
(3) http://news.xinhuanet.com/english2010/world/2010-04/03/c_13236098.htm
(4) http://www.nzz.ch/nachrichten/international/bundeswehr_afghanistan_1.5368257.html
(5) http://www.focus.de/politik/ausland/kundus-bundeswehr-toetet-afghanische-soldaten_aid_495509.html
(6) http://www.zeit.de/politik/ausland/2010-04/afghanistan-gefechte-bundeswehr
(7) http://www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,669965,00.html
(8) http://www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,687192,00.html