Hartz Behörde spart postalische Kosten und provoziert neue Gerichtsverfahren
Das Landessozialgericht Nordrhein Westfalen hat im September zwei sehr interessante Urteile im Bereich Sozialhilfe bzw. Grundsicherung gesprochen, die über den Bereich der Sozialhilfe hinaus maßgeblichen Charakter haben dürften, weil es in den Urteilsbegründungen um die grundsätzliche Arbeitsweise von Behörden im Zusammenhang mit der Beantragung von Sozialleistungen geht.
Während des Leistungsbezugs teilte die Antragsgegnerin der Antragstellerin durch Anschreiben mit, dass sie aus Kostengründen künftig nicht mehr nach Ablauf des jeweiligen Gewährungszeitraumes das Formular „Fortzahlungsantrag“ mit der Post übersenden werde.
Die Antragstellerin könne frühestmöglich ihren Fortzahlungsantrag vier Wochen vor Ablauf des Gewährungszeitraums stellen. Früher eingereichte Anträge müssten unbearbeitet zurückgesandt werden. Es werde empfohlen, spätestens 14 Tage vor Ablauf des Gewährungszeitraumes den Fortzahlungsantrag vollständig bei der Antragsgegnerin einzureichen. Die Formulare erhalte sie an den näher bezeichneten Stellen bzw. auch im Internet.
Die Antragstellerin übersandte der Antragsgegnerin einen von ihr unterschriebenen Fortzahlungsantrag für den folgenden Bewilligungsabschnitt, der bei der Antragsgegnerin einging.
Diese sandte mit Schreiben noch vom gleichen Tage unter Bezugnahme auf das Informationsschreiben den Antrag an die Antragstellerin zurück und wies darauf hin, dass sie diesen nicht bearbeiten könne. Die Antragstellerin könne den Fortzahlungsantrag frühestens vier Wochen vor Ablauf des Gewährungszeitraums stellen.
Mit rechtskräftigem Urteil vom 18.09.2008, L 9 B 38/08 AS und L 9 B 39/08 AS hat das Landessozialgericht Nordrhein- Westfalen festgestellt, dass dieses Vorgehen
Auszugsweise aus dem Beschlüssen
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Dieses Vorgehen ist aber schon an sich äußerst zweifelhaft und fragwürdig gewesen, weil in keiner Weise erkennbar ist, auf welcher gesetzlichen Grundlage es beruht, dass ein Hilfeempfänger pauschal auf das Internet mit unterstelltem Vorhandensein von entsprechenden Anlagen verwiesen wird / werden kann, nur weil die Behörde meint, postalische Kosten sparen zu können. Dasselbe gilt für den Hinweis, der Hilfeempfänger solle selbst zu den Behörden kommen.
Dies widerspricht bereits den der Antragsgegnerin obliegenden Beratungspflichten nach §§ 13, 15 SGB I, deren Inhalt und Ziel die Verwirklichung der sozialrechtlichen Leistungsansprüche auch im laufenden Bezug durch einen rechtzeitigen Leistungsantrag auf Folgeleistungen ist (vgl. hierzu Link in Eicher/Spellbrink, SGB II, 2. Auflage, § 37 Rn. 19 und 19a).
Die Antragsgegnerin übersieht ferner, dass § 2 Abs. 2 SGB I die für jeden Leistungsträger maßgebliche Regel aufstellt, sicherzustellen, dass die sozialen Rechte möglichst weitgehend verwirklicht werden. Daran zu erinnern ist auch deswegen hier geboten, ob – nach Aktenlage – gerade bei der jungen, alleinerziehenden Antragstellerin Hilfestellung angezeigt ist, selbst wenn diese nicht immer im notwendigem Umfang mit der an sich gebotenen Gewissenhaftigkeit ihren bestehenden Mitwirkungspflichten nachkommt.
Das Verlangen der Antragsgegnerin entbehrt im Übrigen vor allem aber einer Rechtsgrundlage.
So ist die Antragsgegnerin zunächst darauf zu verweisen, dass der Hilfebedürftige nach § 37 SGB II gesetzlich nicht verpflichtet worden ist, den Leistungsantrag innerhalb vorgegebener Fristen zu stellen. Dieser muss nur vor Leistungsbeginn gestellt sein.
Die Antragsgegnerin kann aus dem Fehlen einer weitergehenden Antragsfrist entgegen ihrer Ansicht nicht eigenmächtig herleiten, dass nunmehr sie als Behörde zur Vorgabe solcher Fristen, die sogar zu dem Nachteil einer Bearbeitungsverweigerung bei einem Nichteinhalten führen sollen, befugt sei.
Der nach § 37 SGB II erforderliche Antrag stellt nämlich die einseitige öffentlich-rechtliche Willenserklärung des Hilfeempfängers mit dem Begehren dar, dass der Leistungsträger in bestimmter Weise für den Antragsteller tätig werden soll. Dieser bringt damit sein Begehren auf Einleitung und Durchführung eines Verwaltungsverfahrens zum Ausdruck (vgl. Link, a. a. O., § 37 Rn. 12; Schoch in LPK-SGB II, 2. Auflage, § 37 Rn. 5; Hümecke in Gagel, SGB III, Stand: Juni 2008, § 37 SGB II, Rn. 13, 21).
Damit ist die Antragsgegnerin als Behörde aber nach Eingang eines derartigen Antrags nach § 18 Satz 2 Nr. 1 SGB X gehalten und verpflichtet, das Verwaltungsverfahren auch durchzuführen. Da ausweislich des § 37 SGB II kein Ermessen eingeräumt worden ist, darüber zu entscheiden, ob und wann die Antragsgegnerin ein Verwaltungsverfahren durchführt, fehlt für ein solches Vorgehen die nach § 18 Satz 1 SGB X bestehende Rechtsgrundlage zur eigenständigen Entscheidung darüber.
Die Verpflichtung der Antragsgegnerin zum Tätigwerden als Behörde und Annehmen von Anträgen folgt ferner aus § 20 Abs. 3 SGB X. Dieser regelt ausdrücklich, dass die Behörde die Entgegennahme von Erklärungen oder Anträgen nicht verweigern darf, weil sie die Erklärungen oder den Antrag in der Sache für unzulässig oder unbegründet hält.
Der Gesetzgeber hat damit ausdrücklich eine Entgegennahmepflicht der Behörde unter anderem für Anträge begründet, an die im Hinblick auf § 16 Abs. 1 und 2 SGB I sogar auch unzuständige Leistungsträger gebunden sind, die zunächst angegangen worden sind (vgl. von Wulffen, SGB X, 6. Auflage, § 20 Rn. 12; Hümecke, a. a. O., § 37 SGB II, Rn. 23; auch Link, a. a. O., § 37, Rn. 20).
Das Wegschicken eines Antragstellers ist daher rechtswidrig.
Die Behörde ist somit zur Bearbeitung eines eingereichten Antrags im Wege der Amtspflichterfüllung verpflichtet und kann nicht bereits im Vorhinein eine solche ablehnen. Damit kann der Hilfeempfänger auch ohne Weiteres zulässigerweise den Antrag auf Leistungen bereits vor Erfüllung der Anspruchsvoraussetzungen stellen (Hümecke, a. a. O., § 37 SGB II, Rn. 20), ohne deswegen Nachteile befürchten zu müssen.
Beschluss – 18.09.2008 – L 9 B 38/08 AS, Dieser Beschluss ist nicht anfechtbar (§ 177 SGG).
Quelle: LSG Nordrhein-Westfalen L 9 B 38/08 AS und L 9 B 39/08 AS 18.09.2008 rechtskräftig
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Damit dürfte einmal mehr geklärt sein, welche Aufgaben und Funktion die Behörden bei der Antragsstellung staatlicher Leistungen haben und wie sich ihre Verpflichtungen zur Information und Beratung aus dem Sozialgesetzbuch ableiten.
Leider ist es immer noch üblich, dass Anspruchssteller mit dem fadenscheinigen Hinweisen abgewiesen werden, z.B. weil sie Nachweise nicht als Kopien bei der Antragsabgabe abgeben.
Aber wer besteht denn auf der Einreichung schriftlicher Belege und auf welcher gesetzlichen Grundlage beruht diese Annahme. Auch die Aussage, nur die Vorlage von Originalen oder beglaubigte Kopien zu akzeptieren widerspricht den Mitwirkungspflichten eines Anspruchsstellers.
Denn im Sozialgesetzbuch I steht eindeutig, dass ein Antragsformular als Begehren zur Anspruchsstellung ausreichend ist, Belege oder Bescheinigungen können nachgereicht werden.
Zur Bearbeitung eines Antrages ist das Antragsformular ausreichend.
Bei Antragsstellern, die sich nicht in der Lage sehen, ein Antragsformular auszufüllen (weil er es inhaltlich nicht versteht oder Angst hat, es fehlerhaft auszufüllen), ist die Behörde bei der der Antrag gestellt wird verpflichtet, ihn bei der Antragsstellung so zu unterstützen und auf Begehren des Anspruchsstellers den Antrag selbst auszufüllen.
(§ 16 Abs. 3 SGB I) „Die Leistungsträger sind verpflichtet, darauf hinzuwirken, dass unverzüglich klare und sachdienliche Anträge gestellt … werden.“ Wenn die Behörde nicht darauf hingewirkt hat, dass klare und sachliche Anträge gestellt werden, ihren Amtspflichten also nicht nachgekommen ist, können Ansprüche aus Amtshaftung bei Amtspflichtverletzung entstehen. (Giese/ Krahmer, Sozialgesetzbuch I, Kommentar, Köln 1999 zu SGB I § 16, 8). Sie können also die Behörde wegen Amtspflichtverletzung aus „grober Fahrlässigkeit“ verklagen oder damit drohen. Die Verantwortung trifft letztlich die Behörde, die nicht dafür sorgt, dass Rechtsverletzungen unterbleiben.
(§13 SGB1) Die Leistungsträger, ihre Verbände und die sonstigen in diesem Gesetzbuch genannten öffentlich-rechtlichen Vereinigungen sind verpflichtet, im Rahmen ihrer Zuständigkeit die Bevölkerung über die Rechte und Pflichten nach diesem Gesetzbuch aufzuklären.
lsg-nrw-l9-b3808-as-postflicht-zur-information-u-zusendung-von-atragsformularen
lsg-nrw-l9-b3908-as-hinweispflicht-u-mitwirkung-der-behorde-bei-antragsstellung